: Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher. München 2004 : C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-51679-3 88 S., 30 Abb. € 12,00

: Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriß. Stuttgart 2003 : UTB, ISBN 3-8252-2426-0 349 S. € 16,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Michael Stolleis ist der berufene Autor einer Metapherngeschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Wer sonst überschaute es ähnlich differenziert? Seine Geschichte des öffentlichen Rechts, von 1600 bis 1945 reichend, liegt in drei prallen Bänden im Beck-Verlag vor.1 Dazu kommen noch drei Suhrkamp-Bände gesammelter Studien, die charakterisierende Schlaglichter auf die jeweiligen Epochen werfen: Für die Frühe Neuzeit ist es der Zusammenhang von Staatsbildung und Staatsräsondiskurs2, für das 19. Jahrhundert der Konnex von Konstitution und Intervention3, durch den die Konstitutionalisierung zum Dynamisierungsfaktor wurde, für das 20. Jahrhundert ist es dann das „Recht im Unrecht“4 des Nationalsozialismus, das selbst zum Unrecht wurde. Eindringlich beschreibt Stolleis in seinem dritten Band die Politisierung des ganzen Rechtssystems und seiner Rechtswissenschaft. Die „furchtbaren Juristen“5 beschäftigen ihn seit seiner Habilitationsschrift über die „Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht“ (1974) schon. Ein ganzer Kranz von Herausgeberschaften und Publikationen kommt noch dazu. Jeder wird wünschen, dass Stolleis seine umfassende Historisierung des öffentlichen Rechts noch in einem vierten Band bis zur Wiedervereinigung führt. Inzwischen aber hat er andere Fäden aufgenommen. So publizierte er im letzten Jahr eine umfassende „Geschichte des Sozialrechts in Deutschland“6 und gönnte sich eine subtile Kommentierung einiger Geschichten von Johann Peter Hebel.7

Nach dem vorläufigen Abschluss der Geschichte des öffentlichen Rechts steht Rückschau und synoptische Zusammenschau an. Die Geschichte des Sozialrechts, die Stolleis seit seinen Anfängen interessierte, bot dafür Gelegenheit. Das Thema ist durch den gegenwärtigen Ab- oder Umbau des Sozialstaats und die „Agenda 2010“ brennend interessant. Stolleis setzt nicht mit Bismarck ein, sondern geht von der „sozialen Sicherung im Mittelalter und im frühmodernen Staat“ aus und betont die Kontinuität älterer Sozialhilfestrukturen unterhalb des vorübergehenden Liberalisierungsschubs (vgl. S. 30, 67) Mitte des 19. Jahrhunderts, der den Emanzipationsgewinn mit der Heraufkunft der „sozialen Frage“ erkaufte. Die konsequente Verstaatlichung der Sozialpolitik durch Bismarcks System der „Zwangsversicherung“ (S. 60) fußte auf einer relativen Kontinuität privater, zumeist christlich-caritativer Sicherungssysteme und hatte an ihnen eine Ergänzung. Mit Bismarck siegte die alte Orientierung am Staat erneut über den Liberalismus. „Der ‚Staat’ rückte wieder ins Zentrum.“ (S. 50, vgl. S. 64). Bismarck suchte Sozialdemokratie und Arbeiterschaft zu spalten, indem er die Partei verfolgte und die Arbeiter sozialpolitisch umwarb. Dies war der „Schritt in den Interventionsstaat“ (S. 72, vgl. S. 86, 105), betont Stolleis. Der Erste Weltkrieg und das Massenelend der Weimarer Republik zwangen dann zu einem Ausbau staatlicher Sozialpolitik. Nachdem der Staat die Nation für den Krieg mobilisiert hatte, musste er die sozialen Folgekosten tragen und zerbrach an dieser sozialpolitischen Verantwortung und ökonomischen Last: „Der Preis für die Ideologisierung ganzer Nationen war die sozialrechtliche Sicherung aller Bürger gegen die Folgen.“ (S. 122) Das Massenelend entindividualisierte die Fürsorge und trieb sie in Richtung auf einen nichtdiskriminierenden Wohlfahrtsstaat. Die Sozialpolitik aber war die „Achillesferse der jungen Republik. An ihrer Fähigkeit zur Entschärfung sozialer Konflikte entschied sich das Schicksal des Staates“ (S. 151). Relativ knapp beschreibt Stolleis die Sozialpolitik im NS-Staat. Brach dessen rassistische „‚Biologisierung’ der Sozialpolitik“ (S. 184) auch mit den älteren sozialethischen Prinzipien, so gibt es doch jenseits zahlreicher Änderungen auch Kontinuitäten. Die Bundesrepublik knüpfte daran an, um die gewaltigen Aufgaben des Wiederaufbaus, der Integration und Wiedergutmachung zu meistern. Der Zug „von der Fürsorge zur Sozialhilfe“ fand nun als subjektiv-öffentliches Recht auf Sozialhilfe seinen Abschluss. In der Massendauerarbeitslosigkeit zeigt sich heute der „Leistungsstaat in reinster Form“ (S. 250) als eine „Gesellschaftspolitik“ (S. 251), in der sich der Staat „Massenloyalität“ (S. 331) durch Leistungen erkauft. Stolleis streicht insbesondere in seinem Ausblick auf „Langzeitperspektiven der sozialen Sicherheit“ (vgl. S. 331ff.) heraus, wie abhängig diese Loyalität und Staatlichkeit aber von den kollabierenden ökonomischen Möglichkeiten ist. Er bietet also ein Bild des Ausbaus staatlicher sozialer Sicherungen und zieht am Ende in seiner differenzierten (hier nur roh wiedergegebenen) Bestandsaufnahme doch einen ziemlich schwarzen Vorhang über das System.

Der Zusammenhang dieser Geschichte des Sozialrechts mit der Geschichte des öffentlichen Rechts ist schon im Stichwort vom „Interventions- und Leistungsstaat der Gegenwart“ deutlich. Ausdrücklich nannte Stolleis 1988 die „Erfahrungen des Juristen im Interventions- und Leistungsstaat der Gegenwart“ den „Hintergrund“ seiner historischen „Identitätssuche“ (Bd. I, S. 54f.). Die „Entstehung des Interventionsstaates“ betrachtete er – in „Konstitution und Intervention“ – dabei als Resultat der Konstitutionalisierung im 19. Jahrhundert. Im Nationalsozialismus aber wurde Recht zum Unrecht, so dass die Dignität des Rechts heute nurmehr am funktionalen „Leistungsstaat“ hängt. Die Entwicklung des Interventions- und Leistungsstaates verfolgt Stolleis nun realhistorisch eingehender an der Geschichte des Sozialrechts. So ist diese Geschichte eng mit seinen früheren Studien verbunden eine erste synoptische Zusammenschau. Stolleis betont den historisch kontingenten Aufbau des „Arrangements“ mit seinen „Ungereimtheiten“ (S. 1) sowie die Gefährdung seiner Funktionalität und Legitimität im gegenwärtigen Leistungsabbau.

Wenn der „Interventions- und Leistungsstaat“ das historische Resultat ist, stellt sich die Frage nach seinem Wahrnehmungsfokus: Ist er hellsichtig, einäugig oder blind? Wie blickt er uns, die Bürger, an? Stolleis geht dieser Frage in seiner essayistischen Metapherngeschichte vom „Auge des Gesetzes“ nach. Er nimmt hier das „berühmte Diktum Carl Schmitts [auf], alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre seien ‚säkularisierte theologische Begriffe’“ (S. 48), und bestätigt es für das „Auge des Gesetzes“. Der Wandel des Gesetzesbegriffs war schon ein zentrales Beispiel Schmitts.8 Stolleis geht nun kunstgeschichtlich und ikonologisch vor. Sein knapper Essay enthält nicht weniger als 30 Abbildungen. Er setzt bei dem Befund an, dass die Metapher vom „Auge des Gesetzes“ sich Anfang des 19. Jahrhunderts für den konstitutionellen Rechtsstaat durchsetzte und als „Symbol für die Objektivität des Rechts“ stand, bald dann aber in der politischen Karikatur im Spitzel auch personalisiert wurde. Stolleis geht dann hinter die Neuzeit und Moderne auf die ältere Theologiegeschichte vom „Auge Gottes“ und der „Gerechtigkeit“ zurück und skizziert die Übertragung der Metapher auf die barocke Repräsentation des Fürsten. Er behandelt die „Säkularisierung“ als einen allmählichen, „fast unmerklichen Verschiebungsprozeß“9 von der Kirche zum Staat und spricht von einer „Durchmischung“ (vgl. S. 28ff.), die die absolutistischen Herrscher zur Formulierung ihres anmaßendes Anspruchs auf eine „gottähnliche“ Stellung nutzten. Sein besonderes Interesse gilt aber weniger dieser Übertragung der „Allwissenheit und Aufsicht“ von Gott auf den absoluten Herrscher, sondern dem zweiten Schritt der Übertragung der Gottesattribute vom Monarchen auf ein unpersönliches Gesetz.

Stolleis datiert ihn mit der Französischen Revolution und der resultierenden Sakralisierung der geschriebenen Verfassung zu einer „Art Über-Gesetz“ (S. 51). Er schreibt: „Auf diese Weise führen die Tendenzen der Säkularisierung, der Entpersonalisierung und Versachlichung der Herrschaft von Gott zum irdischen Gott des Fürsten, von da zum sterblichen Gott des Leviathan, und von diesem zum vergöttlichten Gesetz, das seinerseits seine Krönung in der Verfassung findet.“ (S. 51) Nur mit einem Seitenblick auf die USA deutet Stolleis an, dass der radikale „Neuanfang“ mit der Herrschaft des Gesetzes „unter der Providenz eines entkonfessionalisierten, für alle akzeptablen [neuen] Gottes“ (S. 52) stand: unter der Providenz des Dollars. Leider lässt er diesen Gedanken sogleich fallen, um die ikonologische Durchsetzung der Metapher vom „Auge des Gesetzes“ im Prozess der Französischen Revolution näher zu untersuchen, bei der die repressiven Aspekte der Überwachung der Bürger deutlich visualisiert wurden (vgl. 54ff.). Der Konstitutionalismus moderierte sie dann zum „Schutzwall“ gegen das Volk und den Monarchen: „Die zu hütenden Schafe sind die Volksrechte, der bedrohliche Wolf ist die monarchische Gewalt.“ (S. 63), schreibt Stolleis.

Heute sei der „Weg von der metaphysisch begründeten Gerechtigkeit zur formalen Rechtsordnung“ (S. 46) derart fortgeschritten, dass schon die Frage nach materialer Gerechtigkeit „Irritationen“ auslöse. „Das Gesetz ist inhaltlich leer.“ (S. 68) „Das moderne Parlamentsgesetz wird von keiner Metaphysik mehr getragen.“ (S. 70) In der surrealistischen Kunst entdeckt Stolleis einen „leeren Mechanismus des Scheins“ als Bild radikaler Entpersönlichung und Technisierung der Überwachung. Der abschließende Seitenblick auf das antiquierte personalistische Überwachungssystem der Stasi kann deshalb kaum beruhigen. Man könnte auch das Fazit ziehen, dass die rein technische Überwachung die Repression steigert. Jedenfalls predigt Stolleis keinen „Optimismus“ (S. 68), sondern betont die repressiven und irrationalen Züge der Gesetzesherrschaft. Wie anders sollte man Rechtsgeschichte heute auch schreiben? Stolleis’ funkelnder Essay ist nicht nur ein Exempel für eine „beschreibende“ (Jan Assmann)10 Politische Theologie, sondern auch ein Gegenstück zu Schmitts später Rückschau auf „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“.11 Er mobilisiert zwar einige Sicherungen gegen eine nostalgische oder radikal pessimistische Wertung, so den Verweis auf die Alternativlosigkeit des Metaphysikverlusts und die Vorteile des Parlamentarismus gegenüber „Diktaturen“. Insgesamt aber überwiegen doch die düsteren Töne. Das ist von hoher symptomatischer Bedeutung. Denn Stolleis ist kein Schwarzmaler und Untergangsprophet, sondern gehört zu den wichtigsten Verteidigern der normativen Substanz der Bundesrepublik. Als Rechtshistoriker aber wählt er die Beobachterperspektive und formuliert nach Abschluss seines normativ enthaltsamen Durchgangs durch die Geschichte des öffentlichen Rechts nun einen metapherngeschichtlichen Rückblick und eine Zwischenbilanz, in der das Gesetz jede sakrale Aura verloren hat und seine repressive Seite offen zeigt. Wir schauen ins Antlitz eines radikal unpersönlichen Leviathan, der uns zunehmend seine Segnungen versagt. So prägnant zusammengefasst konnte man das bei Stolleis bisher noch nicht lesen.

Anmerkungen:
1 Stolleis, Michael, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 3 Bde., München 1988/1992/1999.
2 Stolleis, Michael, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990.
3 Stolleis, Michael, Konstitution und Intervention. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert, Frankfurt 2001.
4 Stolleis, Michael, Recht im Unrecht. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt 1994.
5 Dazu vgl. Stolleis, Michael, Furchtbare Juristen, in: Francios, Étienne; Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 2 Bde., München 2001, S. 535-548.
6 Stolleis, Michael, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, Stuttgart 2003.
7 Stolleis, Michael, Der menschenfreundliche Ton. Zwei Dutzend Geschichten von Johann Peter Hebel mit kleinem Kommentar, Frankfurt am Main 2003.
8 Dazu bes. Schmitt, Carl, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München 1926, S. 52ff.
9 Stolleis, Michael, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, Stuttgart 2003, S. 16.
10 Dazu vgl. Assmann, Jan, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000.
11 Schmitt, Carl, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, Tübingen 1950.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Weitere Informationen
Das Auge des Gesetzes
Sprache der Publikation
Geschichte des Sozialrechts in Deutschland
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension